Die Swiss Life ist der grösste Lebensversicherer der Schweiz. Ihr Verwaltungsratsmitglied Carsten Maschmeyer sieht eine goldene Zukunft für das Unternehmen voraus. An einer Hauptversammlung des Finanzdienstleisters AWD sprach er es offen aus: «Nach der Verlagerung von der staatlichen zur privaten Altersvorsorge steht die Finanzdienstleistungsbranche vor dem grössten Boom, den sie je erlebt hat. Sie ist ein Wachstumsmarkt über Jahrzehnte. Es ist, als ob wir auf einer Ölquelle sässen.
«Sie ist angebohrt, sie ist riesig gross und sie wird sprudeln.»
Wenn Maschmeyer von der Verlagerung der staatlichen Altersvorsorge zur privaten spricht, dann geht er von sinkenden AHV- und Pensionskassenrenten aus. Und davon, dass dann die Schweizer leichter von Nutzen und Notwendigkeit der privaten Lebensversicherungen zu überzeugen sind.
Schreckensszenario einer vergreisten Schweizer Bevölkerung
Genau das ist die Absicht des ständigen Geredes von der Gefährdung der AHV und den ungesicherten Altersrenten. Was auffällt: Führend bei dieser Kampagne sind Politiker und Organisationen wie die Avenir Suisse, die der Versicherungsbranche und der Finanzindustrie nahestehen. Um ihr Ziel zu erreichen, jagen sie den Menschen Angst ein. Die Stossrichtung: Die Geburtenrate ist viel zu niedrig, die Schweizer werden immer älter. Und die Alten leben auf Kosten der Jungen. Der Zweck ist klar: Jetzt hilft nur noch Privatvorsorge. Immer mehr Menschen sollen zum Abschluss privater Versicherungen motiviert werden.
Dies bestätigt eine letzte Woche vom Schweizerischen Versicherungsverband versandte Broschüre. Titel: «Die Schweizer Privatversicherer – Strategie 2015». Darin heisst es: «Das Thema Altersvorsorge und dessen Bedeutung im Hinblick auf das Vorliegen einer persönlichen Vorsorgelücke ist nicht allen Bürgern bewusst. Insofern besteht ein weiterer Handlungsbedarf in der Kommunikation und Sensibilisierung für die Altersvorsorgethematik.»
Sowohl die AHV wie auch die 2. Säule stehen immer besser da
Wer die heutigen Zahlen der AHV (1. Säule) und der beruflichen Vorsorge (2. Säule) genau anschaut, kann keine «Vorsorgelücke» erkennen. Das Kapital der AHV steigt ständig, weil jedes Jahr mehr ein- als ausbezahlt wird. Beispiel 2008: Die Einnahmen von 36 Milliarden übersteigen die Ausgaben um 2 Milliarden. Zur Erinnerung: Das 2005 vom Bundesrat erstellte Szenario für 2008 ging von einem Defizit von 563 Millionen aus.
Mit seinen AHV-Prognosen lag der Bundesrat schon früher gravierend daneben. Wenn das eingetroffen wäre, was die Regierung in der Botschaft zur 11. AHV-Revision im Jahr 2000 prophezeite, dann hätte die AHV im 2005 und 2006 ein Defizit von rund 1,5 Milliarden aufweisen müssen. Tatsächlich betrug der Überschuss aber 2,5 Milliarden. Konkret: Der Bundesrat machte einen Pro-gnosefehler von 4 Milliarden.
Das Jahr 2008 ist zudem kein Einzelfall: Die AHV machte in den vergangenen Jahren regelmässig Überschüsse von 2 Milliarden und mehr, obwohl die Zahl der Rentner bereits seit vielen Jahren stärker zunimmt als die Zahl der Erwerbstätigen. Das heisst: Die AHV steht finanziell sehr gut da.
Dasselbe gilt für die berufliche Vorsorge. In der 2. Säule wird das von den Erwerbstätigen einbezahlte Kapital bis zur Pensionierung gesammelt. Die Ersparnisse der Schweizer erreichen in den Pensionskassen inzwischen über 700 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Das entspricht rund 11-mal den budgetierten Ausgaben der Eidgenossenschaft fürs Jahr 2009.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die AHV sicher und gesund ist: Noch immer hat sie ein dickes Polster. Ende 2007 lag das Vermögen bei über 40 Milliarden. Dann schrumpfte es aufgrund von theoretischen Verlusten auf Wertschriften im Krisenjahr 2008 auf gut 38 Milliarden. 2009 liegen laut inoffiziellen Schätzungen rund 42 Milliarden in der AHV-Kasse.
Höheres Rentenalter soll die gestiegene Lebenserwartung ausgleichen
Trotz dieser Fakten werden bürgerliche Politiker und vor allem die Avenir Suisse – zum Förderkreis gehören die Versicherungskonzerne Allianz, Bâloise, Axa, Helvetia, Generali und Zurich – nicht müde, der AHV ein schlimmes Ende vorauszusagen. Das wichtigste Argument der Schwarzmaler: Die älter werdende Bevölkerung führe zu einem Kollaps, immer weniger Junge müssten für immer mehr alte Menschen zahlen.
Deshalb will Katja Gentinetta von Avenir Suisse das Rentenalter sukzessive auf 70 Jahre erhöhen. Keck behauptet sie: «Die AHV hat die demografische Entwicklung nie mitgemacht. Dabei ist die Lebenserwartung massiv gestiegen. Wir beziehen im Schnitt sieben Jahre länger Rente als 1948. Das kann nicht aufgehen.»
In die gleiche Kerbe haut Yves Rossier, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung: «Ohne Reform erreichen wir den Alarmzustand zwischen 2021 und 2025. Dann ist nicht mehr sichergestellt, dass alle Rentner jeden Monat ihr Geld bekommen», behauptet er. Auch Marco Netzer, Verwaltungsratspräsident des AHV-Fonds bläst ins gleiche Horn: «Aufgrund des Rückgangs bei der Beschäftigung und der negativen Auswirkungen der konjunkturellen Baisse auf das Lohnniveau kann kaum damit gerechnet werden, dass das Umlage-Ergebnis der AHV während der kommenden Jahre positiv bleiben wird.»
Erwerbsquoten und Produktivität wichtiger als die Lebensdauer
Doch es gibt auch andere Stimmen. Professor Bernd Schips von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen ist überzeugt: «Die AHV kann den demografischen Wandel bewältigen.» Dass junge Erwerbstätige nun befürchteten, keine ausreichende AHV-Rente mehr zu bekommen, ist laut Schips nachvollziehbar – «aber nicht gerechtfertigt».
Für Schips ist klar: «Es reicht nicht aus, nur die Alterslastquotienten zu betrachten, wenn man das Finanzierungsproblem der AHV beurteilen will.» Er gibt zu bedenken, dass sich gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) bis 2030 das Verhältnis von Nicht-Erwerbstätigen und Erwerbstätigen nur leicht verändere: «Es wird zwar mehr Altersrentner geben, gleichzeitig wird aber die Zahl der unter 20-Jährigen zurückgehen», so Schips. Das heisst: «Die Nicht-Erwerbstätigen – also die Kinder und Altersrentner – werden die Erwerbstätigen selbst bis 2050 nur unwesentlich mehr zur Kasse bitten als schon 1970.»
Hinzu kommt: Dass die Zahl der Personen, die 65 Jahre und älter sind, im Vergleich zur Zahl der Leute im Alter von 20 bis 64 steigt, ist keine neue Entwicklung. Im Gegenteil: Von 1920 bis 1980 hat sich dieses Verhältnis mehr als verdoppelt. Kam 1920 noch eine Person, die älter als 64 Jahre war, auf 10 Personen im Alter von 20 bis 64, so war das Verhältnis 1980 nur noch 1:5.
Doch zentral sind andere Punkte: Der Generationenvertrag hängt nicht so sehr von der Zahl der Alten, Arbeitsfähigen, Jugendlichen und Kinder ab. Wichtiger ist, ob die Menschen Arbeit haben, wie hoch die Erwerbsquote ist und ob die Menschen produktiv arbeiten. Wenn weiterhin immer mehr Frauen arbeiten, der Trend zur Frühpensionierung gestoppt werden kann und die Zuwanderung von hochqualifizierten ausländischen Arbeitskräften anhält, dann profitiert die AHV weiterhin von Zusatzeinnahmen.
Positiv wirken sich zudem auch eine frühere Einschulung und die Verkürzung der Erstausbildungszeit auf die AHV-Rechnung aus. «Höhere Erwerbsquoten können wesentlich zur Stärkung der AHV beitragen», so Schips. Hinzu kommt: «Eine zunehmende Knappheit der Arbeitskräfte wird mit einiger Sicherheit zu stärker steigenden Löhnen und damit auch zu einem höheren Beitragsaufkommen führen.»
Jahreslohn seit 1950 von 5400 auf 90‘000 Franken angestiegen
Die entscheidende Frage für Schips ist aber, ob das künftige Wirtschaftswachstum ausreichen wird, um von den Erwerbstätigen höhere AHV-Beiträge verlangen zu können, ohne dass diese effektive Reallohneinbussen hinnehmen müssen. «Das ist mit einem jährlichen Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent möglich», so Schips.
Weil künftig weniger Menschen arbeiten, hängt alles von der Produktivität ab. Jeder Angestellte in der Schweiz produziert heute mehr als dreimal so viel wie 1950. Die Menschen sind besser ausgebildet, arbeiten mit leistungsfähigeren Maschinen, Fahrzeugen und Computern, können auf eine Top-Infrastruktur und modernste Kommunikationsmittel zählen. Entsprechend sind die Löhne in den letzten 60 Jahren markant gestiegen. Ein Vollzeitangestellter verdiente 1950 rund 5400 Franken – heute sind es weit über 90‘000 Franken. Dieser Produktivitätsanstieg hat der AHV viel Geld in die Kassen gespült. Denn auf jedem Franken Einkommen müssen AHV-Beiträge bezahlt werden. Verdient der Einzelne mehr, so zahlt er auch mehr in die AHV ein.
Beispiel Deutschland
Im Nachbarland Deutschland wird das private Alterssparen staatlich gefördert. Und das sehr zum Wohlwollen der Versicherungsbranche. Das Stichwort heisst Riester-Rente: Angestellte sind berechtigt, eine freiwillige private Altersvorsorge abzuschliessen. Es locken ein Steuervorteil bei der Einzahlung und staatliche Geldzuschüsse.
Doch die Angebote der Versicherungen sind offenbar nicht sehr attraktiv: Von der Verbraucherzentrale erhalten sie schlechte Noten. Unter dem Titel «Riestern lohnt sich nur selten» berichtet die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» vom 29. November 2009 über die trickreichen Machenschaften der Anbieter von Riester-Produkten. Die Kritik der Zeitung: Der Markt sei hochkomplex, völlig undurchsichtig, sehr kostenträchtig und daher in vielen Fällen trotz staatlicher Zulagen alles andere als lohnend für den Sparer.
Der frühere deutsche Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) meinte jüngst: «Weltweit erfährt das Lieblingsprojekt der Neoliberalen, nämlich die Privatisierung der Altervorsorge, dem wir hierzulande die Riester-Rente verdanken, ihr globales Waterloo.» Argentinien, der einstige Musterschüler der Weltbank, habe seine private Alterssicherung verstaatlicht. Und auch Chile habe seinem maroden kapitalgedeckten Altersversorgungssystem Zügel angelegt, so Blüm. «In den USA ist General Motors von seinen Pensionsfonds ins Schleudern gebracht worden.
80‘000 Pensionsfonds sind im Laufe der Zeit in den USA zusammengebrochen. Spektakulär bei Enron, sonst meistens lautlos als stille Beerdigung.» Und Blüm hält weiter fest: «Der guten alten Rentenversicherung hierzulande passiert das Gott sei Dank nie. Sie war immer zur Stelle. Zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform hat sie überlebt. Keine Privatversicherung der Welt hätte die Deutsche Einheit sozialpolitisch geschultert. Das schaffte nur die ‹alte› staatliche Rentenversicherung.»